Grenzen – verstehen (2. Teil)

Lesezeit ca.: 6 Minuten

Zuletzt aktualisiert vor 8 Monaten von Henryk

Unsere Zeit, unser Leben, unsere Kraft, Rohstoffe, Land, das Schlimme und das Schöne. Die Liebe und das Leiden. Alles ist endlich, begrenzt. Wenn etwas grenzenlos ist, dann verlieren wir uns, ohne Grenzen keine Hoffnung, auf ein Ende und einen (neuen) Anfang. Du bestimmst die Grenze. Was für dich in Ordnung ist, und was zu weit geht.

Grenzen hlefn dir...
Grenzen helfen dir…

„Grenzen sind nur Linien in unserem Kopf.“

Grenzen sind gut. Grenzen sind wichtig. Jeder hat Grenzen. Auch du darfst Grenzen haben.

Auf vielerlei Grenzen stößt der Mensch. Wir sind endliche Wesen im Raum und in der Zeit: Wir leben an einem be­stimmten Ort, unser Sichtkreis ist durch einen Horizont begrenzt, unser Leben geht auf ein Ende zu. Grenzen sind uns durch unsere Natur gesetzt: Tiere haben schärfere Sinne und überlegene Körperkraft, Computer rechnen schneller und zuverlässiger; unser Gedächtnis, unsere Einfühlung, unsere Intelligenz sind endliche Vermögen. In unserem Tun und Erleben haben wir mit äußeren und inneren Grenzen zu tun, mit dem Widerstand der Dinge und der Begrenztheit des eigenen Könnens. Im Erkennen und technischen Bewir­ken, im Gestalten unseres Lebens und im Lenken der Ge­schichte erfahren wir die Schranken unserer Macht. Wir sind nicht Herrscher der Welt und nach Freud nicht einmal Herr im eigenen Hause.

Emil Angehrn, SWISS-ARCHIVES OF NEUROLOGY AND PSYCHIATRY 2014;165(4):106–10 / www.sanp.ch / Link zum PDF (5 Seiten) – Lesenswert

Ab-Grenzung

Sie dienen dazu, uns ab-zu-grenzen. Erst durch das Sichtbarmachen, mit Zäunen, Pfählen, Schildern – eine Abgrenzung, entsteht ein Gebiet oder ein – geometrisches – Objekt, eine Zeitspanne. Ein Haus resultiert aus seinen Wänden. Zugehörigkeit und Abgrenzung sind ein wichtiges Kapitel in unserer Persönlichkeitsentwicklung. Hauptsächlich in der Jugend spielt dies eine große Rolle.

Du kannst keine Grenzen setzen, ohne Leute vor den Kopf zu stoßen. Wenn du dich in den Sturm stellst, muss den Gegenwind aushalten. Sei authentisch, dein Gegenüber muss dich nicht mögen. Spannenderweise bringt das Grenzen setzen genau das hervor.

Begegnung findet an den Grenzen statt.

Helmut Standfuß – 10.12.2016

An meinen Grenzen lerne ich mich selbst kennen. Meine größte Kraft und Fähigkeit und genauso meine tiefste Dunkelheit. Ich begegne dem Anderen, dem fremden Menschen und dem Fremden in mir selbst. Bin ich bereit, mich darauf einzulassen, auf eine „Grenzerfahrung“*?

*) Erlebnis, bei dem Körper und Psyche extremen Belastungen ausgesetzt sind, bei dem jemand seine psychischen und physischen Grenzen erfährt (Duden). Grundprinzip und Zielsetzung z.B. bei Outdoor-Seminaren oder in spezifischen Therapien, die eigenen Möglichkeiten freiwillig ausloten, Grenzen erkennen und anerkennen bzw. eventuell erweitern und überschreiten. (Lexikon der Psychologie)

Grenzenlos

Babys haben keine Grenzen. Im Bauch ihrer Mutter leben sie das ‚ozeanische Gefühl‘ (Freud). Nach der Geburt leben sie in Symbiose, Verschmelzung, eine innige Verbundenheit mit ihrer Umwelt und definieren ihr Sein durch die Gegenwart der Mutter. Das Ich ist noch nicht von der Außenwelt getrennt. Verschwindet die Mutter aus dem Blickfeld, bekommen die Babys Angst, dass sie selbst aufhören zu existieren. Denn ihnen fehlt noch das Bewusstsein der Objektpermanenz*. Diese Entwicklung vollzieht sich erst zwischen dem 3. und dem 8. Lebensmonat. Der nächste große Schritt ist die Erkenntnis, ein ICH, ein SELBST zu sein, der erste Akt der “Abnabelung” und Loslösung von der Mutter. Dies geschieht etwa im Alter von 18 Monaten. Eigentlich ist die Unfähigkeit Grenzen zu setzen die, Suche unseres inneren Kindes nach bedingungsloser Liebe.

*) Die Objektpermanenz ist die geistige Fähigkeit, zu wissen, dass etwas auch dann existiert, wenn es sich außerhalb unseres Sichtfeldes befindet. Das ist für uns Erwachsenen natürlich selbstverständlich, aber Neugeborene denken nur innerhalb ihrer Sichtweite. Sobald etwas ihr Wahrnehmungsfeld verlässt, hört es auf zu existieren. Darum ist die Objektpermanenz so ein fundamentaler Entwicklungsschritt. (Quelle: Blinkist - Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen. Siehe auch: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Objektpermanenz)

Die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung wird mit dem sogenannten „Spiegeltest“ überprüft und gilt bei Kleinkindern als erster Hinweis für ein Ichbewusstsein.
Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Spiegeltest 

Wenn wir nicht beginnen, Grenzen zu setzen, verharren wir an der unsichtbaren Brust, an der Nabelschnur unserer Mutter. Wir bleiben abhängig von der ständigen Bestätigung und Anerkennung durch andere. Bekommen wir diese nicht, fühlen wir uns unwohl und schlecht, haben wir Angst zu verschwinden und uns aufzulösen.

Ein Leben ohne Grenzen ist der kindliche Wunsch, „eine Welt zu schaffen, die steril, sicher, ohne Leiden, ohne Schmerz ist, in der alles machbar und beherrschbar“ sei.

Nach einer Rezension von Florian Englert: Der Mensch in einer grenzenlosen, leeren Welt / Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Entgrenzung

Grenzen erzeugt Unsicherheit, Distanz und auch Einsamkeit. Gleichzeitig geben sie Sicherheit, das Gefühl von Kontrolle und erschaffen dich als Individuum.

Selbstbegrenzung

Dir selbst Grenzen zu setzen bedeutet, selbständig zu werden und gesund unabhängig zu sein. Ziel ist es, dir selbst all die Anerkennung, Bestätigung und Respekt zu geben, die du verdienst und bisher von anderen erwartet hast. Es schützt deine endlichen Ressourcen an Kraft und Zeit. Damit wirst du weniger anfällig für Missbrauch, Manipulation und Ausbeutung, denn du hast aufgehört nach dem Zuspruch durch andere zu lechzen. Du bist kein durstiges Kind mehr, dass sich auf alles stürzt, was irgendwie nach Trinken aussieht, egal ob es dir guttut oder schadet. Der Wunsch nach Anerkennung ist in Ordnung, problematisch wird es, wenn wir unser ”Selbst-bewusst-sein“ davon abhängig machen. Erhalten wir Lob oder Respekt von außen, dann ist dies ein Bonus und nicht unsere Lebensgrundlage.

Grenzen machen dich sichtbar
Grenzen machen dich sichtbar

Als Kinder setzten uns (hoffentlich) unsere Eltern Grenzen. In der Schule tun es die Lehrer und das System des Unterrichts. Auf der Autobahn die Leitplanken und die Straßenverkehrsordnung. Im persönlichen Bereich sind wir selbst gefordert, z.B. unseren Medienkonsum/Online-Spiele zu begrenzen, gerade um Suchttendenzen vorzubeugen. Entscheidend scheint hier ein hohes moralisches Niveau* (wie begründe ich, was ich tue). Gerade für Heranwachsende ein wichtiges Thema.

*) https://www.ew.uni-hamburg.de/einrichtungen/ew1/medienpaedagogik-aesthetische-bildung/forschung/phemo.html

Veränderung setzt voraus, die „Grenzen des Möglichen schmerzhaft anzuerkennen“.

Rainer Funk: Vortrag 2011 / Link zum PDF (10 Seiten)

Entgrenzung

„Grenzen könnten Eigenständigkeit, Vielfalt und Individualität sichern, aber auch Austausch und Erweiterung der Erfahrungshorizonte behindern. Entgrenzung [dagegen] könne Identitäten verwischen und Mannigfaltigkeit zum Verschwinden bringen, aber auch erstarrte Strukturen aufbrechen und Entwicklung den Weg ebnen.“

Bernd Kortländer in seiner Schrift: Begrenzung – Entgrenzung / Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Entgrenzung

Entgrenzung bringt Gefahren und Vorteile. Alles ist eins. Keine klare Trennung von Arbeit und Privatleben. 24/7 erreichbar. Entgrenzungen durch digitale Medien berühren mindestens 3 Bereiche: zeitlich (jederzeit), örtlich (unabhängig durch Smartphones) und sozial/situativ (während einer Party, im Zug, beim Gehen, Essen, Fernsehen…). Fallen alle Grenzen beim Kampf für die eigene Sache, dann kennt die Gewalt kein Limit und Folter wird plötzlich legitim. Ohne Begrenzungen kommt es zwischen Erwachsenen und Kindern zu sexuellen Übergriffen.

„Anders als der Begriff Grenzüberschreitung, bei dem eine Grenze wie eine Hürde überschritten wird, ohne dass die Grenze selbst infrage gestellt wird, lässt sich beim Begriff Ent-Grenzung auch aus der Worherkunft zeigen, dass es immer um eine Beseitigung von Grenzen geht.“

Rainer Funk: Der entgrenzte Mensch

Wenn wir Grenzen setzen, haben wir gute Voraussetzungen, um eine starke Persönlichkeit zu entwickeln. Dies erfordert Bewusstheit und gleichzeitig fördert es sie. Ohne Grenzen sind wir formlos und stehen in Gefahr uns aufzulösen. Wir sind uns unserer selbst nicht mehr bewusst.

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